Die Bundesregierung wird am Samstag bekanntgeben, welche weiteren Verschärfungen zur Eindämmung der Coronakrise umgesetzt werden. Das sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Donnerstag nach einer Expertenrunde zum Thema "Bettenkapazität" im Kanzleramt. Zuvor wird die Regierung am Freitag mit den Sozialpartnern Gespräche führen, am Samstag dann mit den Parlamentsparteien und den Landeshauptleuten. Auslöser dürfte der Vorstoß von Angela Merkel gewesen sein, die sich auf Frankreich und Polen berief, um Verschärfungen auch in Deutschland einzuführen. Eine Auslastung von Intensiv-Spitalsbetten müsse mit aller Kraft verhindert werden. Europa schickt knapp vor der US-Wahl deutliche Zeichen ihrer Gesundheitspolitik über den Atlantik, wo die Infektionen auch rasant zunehmen.
Man habe am Donnerstag mit den Experten die Frage erörtert, ab welchem Wert der Neuinfizierten das heimische Gesundheitssystem überlastet wäre - und ob dieser wie von ihm bereits vor zwei Wochen geschätzt bei 6.000 positiven Fällen pro Tag liegt. "Das wurde uns so bestätigt", sagte der Kanzler. Derzeit habe man rund 4.500 Neuinfizierte. Viel relevanter sei aber, dass sich diese Zahlen derzeit im Schnitt innerhalb einer Woche verdoppeln, betonte Kurz.
Eine Überlastung des Gesundheitssystems würde nicht nur bedeuten, dass geplante Operationen verschoben werden müssten, sondern im Extremfall auch, dass Ärzte entscheiden müssen, wem geholfen wird oder nicht. "Das ist eine Situation, die werden wir nicht zulassen", sagte der Kanzler.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) rechnet mit bis zu 5.800 Neuinfektionen pro Tag in der kommenden Woche. Setzte sich dieser Trend so fort, könne "eine Überschreitung der Kapazitätsgrenzen Mitte, Ende November eintreten", so Anschober. Deshalb gebe es nun "akuten Handlungsbedarf, um diese Entwicklung zu stoppen". Problematisch sei, dass derzeit der Altersschnitt steigt und vermehrt Infektionen in Alters- und Pflegeheimen auftreten.
Herwig Ostermann, Geschäftsführer von Gesundheit Österreicher erläuterte, dass von 100 Neuerkrankten derzeit im Schnitt eine Person auf eine Intensivstation kommt und dort im Schnitt 12,5 Tage versorgt werden muss. Die Patienten werden "rasant mehr". Mitte November werden laut Prognose 400 bis 500 Patienten auf Intensivstationen liegen, sagte Ostermann. Diese sind auch "versorgbar". Im Schnitt gibt es 2.000 Intensivbetten in Österreich, belegt werden können laut Ostermann diese mit 1.800 Menschen. Ungefähr 60 Prozent davon benötigen die Betten akut, also nach Unfällen oder wegen nicht verschiebbarer Eingriffen. Somit gebe es ein Potenzial von 700 Betten, die in einem Notfall für Patienten zur Verfügung gestellt werden können.
Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), betonte, dass eine Erweiterung der Intensivkapazitäten kurzfristig nicht möglich sei. Werde die Intensivmedizin bei Neuinfektionszahlen über 6.000 an ihre Grenze gebracht, "dann wären wir nicht mehr in der Lage, bestmögliche Medizin bereitzustellen", warnte Markstaller.
Die Corona-Ampel könnte noch am Donnerstag für weite Teile Österreichs auf Rot springen. Laut der Experten-Empfehlung an die Ampel-Kommission werden 51 weitere Bezirke bzw. Regionen zur Rot-Schaltung vorgeschlagen. Bisher waren 25 Regionen als Gebiete mit "sehr hohem" Risiko eingestuft. Damit wären dann 76 der insgesamt 93 in der Ampel definierten Regionen Hochrisiko-Gebiete. Betroffen ist auch Wien.
Laut den "Oberösterreichischen Nachrichten" soll die Bundesregierung für Österreich - anders als in Deutschland - auch eine nächtliche Ausgangssperre erwägen. Die Beschränkung könnte demnach (wie in Tschechien) von 21 Uhr bis 5 Uhr früh gelten, möglich sei auch eine Variante zwischen 23 und 6 Uhr, schrieb die Zeitung.
Neue Maßnahmen könnten vermutlich schon ab kommender Woche in Kraft treten und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bringen. Sie werden aber wohl weniger stark ausfallen als im Frühjahr. Dieses in den Medien auch als "Lockdown light" bezeichnete Szenario soll mit den Maßnahmen anderer Staaten vergleichbar sein - etwa mit jenen, die ab Montag in Deutschland gelten. Dort müssen Gastronomie sowie Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen für vier Wochen schließen, in der Öffentlichkeit dürfen sich nur noch Angehörige zweier Haushalte treffen (maximal zehn Personen). Schulen, Kitas und der gesamte Einzelhandel bleiben in Deutschland aber offen.
Klar dürfte aber sein, dass das Land in den nächsten Tagen vor weiteren Verschärfungen steht. Grund dafür ist die weiter steigende Zahl der Neuinfektionsrate sowie die immer stärkere Auslastung der Spitals-und Intensivbetten. Die Regierung plant für den Nachmittag einen Presseauftritt, wo es weitere Erläuterungen zu den Maßnahmen geben soll.
Sollte die Regierung nach deutschem Vorbild ein schärferes Vorgehen gegen die Pandemie planen, dann braucht sie dafür - zumindest nachträglich - die Zustimmung des Hauptausschusses im Nationalrat. Diese ist laut Covid-19-Maßnahmengesetz nämlich sowohl bei der Schließung von Restaurants und Geschäften nötig als auch bei einer Ausgangssperre. Eine komplette Ausgangssperre wäre zudem nicht möglich, denn das Gesetz erlaubt zumindest fünf Ausnahmen.
Scharfe Kritik an den kolportierten Lockdown-Plänen übte am Donnerstag die FPÖ. "Seit Monaten warnen die schwarz-grüne Regierung und insbesondere Kanzler Kurz so intensiv vor einer 'zweiten Welle' der Corona-Verbreitung, dass man meinen möchte, diese Welle werde geradezu heraufbeschworen. Ansonsten waren sie aber offenbar völlig untätig", sagte FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl in einer Aussendung. "Kurz hat vor drei Tagen den Lockdown als 'Ultima-Maßnahme' bezeichnet. Lange hat er nicht gezögert, um zum Äußersten greifen und die Bevölkerung ein weiteres Mal in gesundheitspolitische Schutzhaft nehmen zu wollen - wohl exakt so lang, wie das Telefonat mit Deutschlands Kanzlerin Merkel gedauert hat", meinte er mit Blick auf das am Mittwoch von Kurz mit Merkel geführte Gespräch über das weitere Vorgehen.
(APA/red)
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