Die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur sind geschlagen, waren allerdings begleitet von allerlei Tiefschlägen von Seiten der Jury gegen teilnehmende Literaten. Die als Favoritin gehandelte Helga Schubert gewann nach einem Stechen das Rennen um den Ingeborg Bachmann-Preis 2020. Unterstützt durch Sticheleien der Jury gegen alle anderen Kandidaten, setzte sie sich gegen die Österreicherin Laura Freudenthaler und die Deutsche Lisa Krusche durch. Schubert erhält 25.000 Euro Preisgeld. Krusche gewann den Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro), der Steirer Egon Christian Leitner den Kelag-Preis (10.000 Euro).
Mit dem Publikumspreis errang Lydia Haider den wertvollsten Preis.
Siegerin Helga Schubert ist keine Unbekannte in den Annalen des Bachmann-Preises. Die gebürtige Berlinerin war bereits 1980 eingeladen, erhielt aber von der damaligen DDR-Führung keine Reiseerlaubnis. 1989 saß die Ostdeutsche schließlich in der Jury. Ihre Kollegen und die Glückszahl 80 verhalfen Schubert im Jahr 2020 zum mehr als symbolischen Preisgeld.
Bei den gehässigsten Tagen der deutschsprachigen Literatur, die es jemals gab, geriet das neue Miteinander über Webcams zum Fiasko in Sachen Respekt und Benehmen. Ein ORF-Corona-TV-Format, dass ohne Publikum kein Regulativ fand, und in dieser Form nie wieder stattfinden sollte.
Freudenthaler, deren Text "Der heißeste Sommer" auf viel Lob gestoßen war, ging schließlich mit dem mit 7.500 Euro dotierten 3sat-Preis nach Hause, beziehungsweise blieb sie dort, da der Bachmann-Preis diesmal coronabedingt virtuell stattgefunden hatte. Als dritte österreichische Preisträgerin ging dann überraschend die in Steyr geborene und in Wien lebende Lydia Haider hervor - sie bekam den mit 7.000 Euro dotierten Publikumspreis.
Zuvor hatte es Haider, deren Lesung von "Der große Gruß" in der Jurydiskussion negative Stimmen auslöste, nicht auf die Shortlist der sieben Preisanwärter geschafft. In der diesmal ebenfalls digital abgelaufenen Jury-Abstimmung hatte es viele Runden des Stechens gebraucht, um die Preisträger schließlich zu ermitteln. Zwar auf der Shortlist, aber leer ausgegangen sind die deutsch-österreichische Journalistin Hanna Herbst sowie die beiden Teilnehmer Matthias Senkel und Levin Westermann.
In seinem Schlusswort resümierte Jury-Präsident Hubert Winkels die vergangenen Tage, bei denen sowohl Autoren als auch die Jury (und das Publikum) lediglich virtuell anwesend waren (nur Moderator Christian Ankowitsch hielt im ORF-Studio die Stellung), was den Richtlinien zur Eindämmung der Corona-Pandemie geschuldet war. "Es wurde ganz gut kompensiert, was live fehlt", so Winkels. Mit der digitalen Ausgabe habe man eine "eigene Kunstform" kreiert, "eine bewegende technische Installation von eigenem Reiz". Winkels, der mit der heurigen Ausgabe als Jury-Präsident scheidet und im kommenden Jahr die Klagenfurter Rede zur Literatur halten wird, bedankte sich bei den Entscheidungsträgern, den Preis nicht ausfallen lassen zu haben. Den Auftakt bildete jedoch am Mittwochabend die "Klagenfurter Rede zur Literatur" von Sharon Dodua Otoo, der Bachmann-Preisträgerin von 2016, mit "Dürfen Schwarze Blumen Malen?"
In ihrem Text "Vom Aufstehen" hatte sich die nunmehrige Preisträgerin Schubert der Mutterbeziehung gewidmet. Bereits in der Jurydiskussion wurde klar, dass sie damit ein Ticket für das Finale und den Bachmann-Preis gelöst hatte. Selbst der sonst so kritische Juror Philipp Tingler, der ebenso wie Brigitte Schwens-Harrant neu in der Jury saß, sagte: "Ich liebe Sie!". Wie Schubert erst in ihrem Statement nach der Preisvergabe sagte, habe sie ihren Text Ingeborg Bachmann gewidmet und wollte ihn ursprünglich "Das achtzigste Jahr" nennen (in Anlehnung an Bachmanns "Das dreißigste Jahr"), habe dann aber darauf verzichtet, um sich nicht an die Jury "ranzuschmeißen".
Die 1990 in Hildesheim geborene Lisa Krusche hatte die Jury mit ihrem Text "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" gespalten, in dem sie in eine Computerspielwelt eintauchte. Eingeladen worden war sie - ebenso wie Egon Christian Leitner - von Klaus Kastberger.
Der freute sich denn auch, dass Leitner mit seinem Text "Immer im Krieg" ebenfalls einen Preis zugesprochen bekam. In der Jurydiskussion hatte sich die Frage nach der deutlichen Haltung des Autors entbrannt, der wie auch in seinem dreibändigen "Sozialstaatsroman" die Leiden der Schutzbedürftigen sowie die Ambivalenz des Helfens ins Zentrum gestellt hatte.
Die dritte ausgezeichnete Autorin, Lydia Haider, konnte beim Publikumspreis überzeugen, nachdem sie von der Jury nicht auf die Shortlist gewählt worden war. Ihr Text "Der große Gruß" war in einem einzigen Satz verfasst und handelte von Hunden und Waffen, zentral war die Bedrohung, die von rechten Strömungen in der Gesellschaft ausgeht.
Die in Steyr geborene Lydia Haider las auf Einladung von Nora Gomringer ihren kurz gehaltenen Literaturbeitrag. Die Lesung führte zu einem Tabubruch in der Jury, als Phillip Tingler zu Beginn die Autorin frage, was sie mit dem Text bezwecke. Er wurde von Juryvorsitzendem Hubert Winkels belehrt.
Als Kommentatoren im Garten des Klagenfurter ORF-Zentrums schlugen sich bei kühlem Wetter Julya Rabinowich und Heinz Sichrovsky, im leeren Studio wurde Ankowitsch von dem Justiziar Andreas Sourij unterstützt, der nicht nur für den reibungslosen rechtlichen Ablauf verantwortlich war, sondern in Lesepausen auch aus Twitter-Meldungen zitierte. Technisch lief beim digitalen Bachmann-Preis Wettlesen, bei dem die Texte vorab aufgezeichnet wurden, die Jury-Diskussion dann aber live gestreamt wurde, alles glatt.
Besonders freute sich Preisträgerin Helga Schubert über die virtuelle Ausgabe, da es ihr aufgrund der Pflegebedürftigkeit ihres Ehemanns nicht leicht gefallen wäre, nach Klagenfurt zu reisen. Sie möchte nun weiter an ihrem in Arbeit befindlichen neuen Buch arbeiten, auch ein Verlag und eine Literaturagentur hätten sich schon bei ihr gemeldet. "Ich bin überglücklich!", so die frisch gebackene Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020.
(APA/red)
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