Coronabedingt findet die traditionsreiche Veranstaltung rund um den Ingeborg-Bachmann-Preis heuer vorwiegend digital statt. Die Lesungen der 14 Autorinnen und Autoren im Rahmen der "44. Tage der deutschsprachigen Literatur" wurden vorab aufgenommen und werden zu den gestern ausgelosten Zeiten eingespielt. Die Jury-Diskussionen finden daran anschließend jeweils live statt. Allerdings nicht im ORF-Theater in Klagenfurt, sondern per Liveschaltung aus Berlin, Zürich, Wien, Graz und Bamberg. Alle Informationen auf orf.at
Die Liveschaltung funktionierte gleich prächtig. Die ausgetragenen Wortgefechte zwischen Klaus Kastberger und dem neuen Juror Philipp Tingler zeigten, dass Social Distancing nicht zu einer Verarmung der Streitkultur geführt hat. Die Autoren sind zugeschaltet und können sich an der Diskussion beteiligen, oder einfach nur zuhören, wenn die Wettbewerbsteilnehmer für den Bachmann-Preis von den Juroren gelobt und kritisiert werden. 3sat überträgt wie jedes Jahr die Lesungen und Diskussionen sowie die Preisverleihung live, der Bewerb wird auch im Internet gestreamt.
Mit einem Auszug aus ihrem Roman "Ü" hat die 1974 geborene Hamburgerin Jasmin Ramadan den Lesereigen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur für den beim Bachmann-Preis 2020 eröffnet. Im Mittelpunkt von Ramadans Auftakt-Text. "Ein famoser Beitrag", urteilte der neue Juror Philipp Tingler zu Beginn der Jury-Diskussion.
Insa Wilke entdeckte darin eine "Parodie des Geschlechterkampfes", Klaus Kastberger fand ihn - immer wieder unterbrochen von Tingler ("Ich quake immer dazwischen, das ist so meine Art") - "recht simpel und mechanistisch". Mit Hubert Winkels, der den Text "sehr wenig durchdacht" und "grotesk falsch" nannte ("Er funktioniert in der Erzählstrategie nicht.") lieferte sich Tingler gleich die erste heftige Debatte.
"Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" heißt der Text, den die 1990 geborene deutsche Autorin Lisa Krusche vorlas, und der eine junge Frau in einer offenbar nahen, dystopischen (Eine Dystopie, auch Antiutopie, selten auch Kakotopie oder Mätopie genannt, ist ein Gegenbild zur positiven Utopie, der Eutopie, und in der Literaturwissenschaft eine fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung mit negativem Ausgang) Zukunft zeigt.
Wilke zeigte sich "beeindruckt vom Mut zum Politischen, vom Mut zum Gefühl", den Krusche in aller Komplexität und Widersprüchlichkeit in eine Science-Fiction-Welt eingebaut habe. Michael Wiederstein sah das reale Computerspiel "The Last of Us" als Vorbild, doch "es ist verdammt schwierig, ein Computergame zu erzählen". Ganz und gar nicht angesprochen fühlte sich Tingler, der "scheinbar intensive, doch oberflächliche Bilder" ortete und die Frage stellte: "Worum geht's hier eigentlich?".
Nach Rumänien und auf die Spuren des Grabs von Ovid führt die Reise dreier Männer in der Erzählung "Über uns, Luzifer", die der deutsche Autor Leonhard Hieronymi vorlas. Insa Wilke ortete in dem Text "eine konservative Ästhetik" und "eine Leere", die hinter den vielen verwendeten Zeichen stehe. Tingler fand einen "dandyesken Anspruch, der nicht wirklich eingelöst wird", und ein "Fehlen jeder Ironie" (was von Wilke und Kastberger in Abrede gestellt wurde) sowie eine "nur mittelmäßige geistige Durchdringung". Winkels zeigte sich angesichts dieses Textes "über behauptete und nicht eingelöste kulturelle Größe" recht ratlos. Ob das für den Bachmann-Preis reicht?
Eine weitere Neuerung sind die beiden Kommentatoren Julya Rabinowich und Heinz Sichrovsky, die im verwaisten Garten des ORF-Theaters in Klagenfurt das Programm in der Mittagspause bestreiten.
Schriftstellerin Julya Rabinowich beklagte unlängst im Namen der LiteratInnen, dass man seit Beginn der Krise im Regen stehen gelassen werde und sich mit dem Gefühl auseinandersetzen müsse, als unwichtig abgestempelt zu werden. Das habe auch System und sei der Versuch einer Zähmung der Widerspenstigen, so die Autorin
Als gelungene Novität bei der publikumslosen Abwicklung der Veranstaltung für den Ingeborg-Bachmann-Preis erwiesen sich Doppelconferencen zwischen Moderator Christian Ankowitsch und dem Justitiar Andreas Sourij, der an einem Schreibtisch nicht nur am Mittwoch die reibungslose Abwicklung der Auslosung überwachte, sondern zwischen den Lesungen auch Social-Media-Kommentare vorliest.
(APA/red)
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