Als die Wiener SPÖ Ende März bekannt gab, den Aufmarsch am 1. Mai und die abschließende Kundgebung am Wiener Rathausplatz aufgrund der Coronavirus-Pandemie abzusagen, hörte man kein Murren oder Raunen unter den Genossinnen und Genossen. Zu diesem Zeitpunkt stand für die meisten Österreicher unwiderruflich fest, dass eine Gesundheitskatastrophe bevorstehe und ohnehin niemand auf die Straßen gehen sollte, um sich nicht in der Masse mit Covid-19 anzustecken Die schrecklichen Prognosen stellte sich zwar als falsch heraus, aber es änderte nichts am Fahrplan der Wiener SPÖ. Und auch nicht an ihrem Entschluss, mit einer Tradition zu brechen.
Als Ersatzprogramm für das ausbleibende Bad in der Menge am Rathausplatz bauten sich die Spitzen der Sozialistischen Partei Österreichs eine TV-Bühne. Dazu wurde eiligst ein Spielfilm über die Errungenschaften der Sozialdemokratie mit roter Star-Besetzung produziert: SPÖ-Bürgermeister von Wien, Michael Ludwig, Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner und andere hochrangige Parteifunktionäre kamen zu Wort. Hochprofessionell, wissenschaftlich fundiert und mit allen wissenswerten Fakten zum 1. Mai, garniert mit vergangenen Errungenschaften vieler Sozialisten und Kommunisten, die den Sozialstaat Österreich mit aufgebaut hatten, ist Plot des Werks.
Die SPÖ war zumindest mit einigen Plakaten präsent, auf denen groß "Freundschaft" zu lesen war, flankiert von überdimensionalen Pappnelken. Warum solche Barrieren aufgebaut wurden, obwohl längst bekannt war, dass Kundgebungen am Rathausplatz auch ohne SPÖ stattfinden würden, muss vorerst als Frage stehen bleiben. Vor den textarmen Plakaten standen am Vormittag des 1. Mai auch einige SPÖ-Funktionäre, die nicht so recht in ihre Rolle fanden. Eine rotbekleidete Dame gab auf Nachfrage bekannt, sie und ihre Genossen wären nur hier, um Spaziergänger zu begrüßen.
Die linke Initiative "Selbstbestimmtes Österreich" hielt hingegen ab 10.00 Uhr eine Kundgebung direkt vor dem Rathaus ab - genau dort, wo ansonsten die sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre am 1. Mai ihre Reden halten sollten. Eine Tribüne gab es nicht, man begnügte sich mit Lautsprecher und Mikrofon. In den Ansprachen beklagte man auch die Mutlosigkeit der SPÖ. Sie habe sich in virtuelle Räume verflüchtigt, statt wie sie auf die Straßen zu gehen. Das Kundgebungsrecht stand am 1. Mai 2020 allen Bürgern des Landes offen.
Der Tag der Arbeit wird von der Bevölkerung traditionell im Wiener Prater begangen: Zuerst der Maiaufmarsch, dann das Treffen am Rathausplatz (samt Bewirtung), schließlich ein Besuch im Prater und rein ins Vergnügen. Wegen Coronavirus ist das Vergnügen heuer ausgefallen. Aber auch jener politische Aktionismus, der diesen Tag immer schon begleitet hat. Da die SPÖ den Gang auf die Straßen heuer ablehnte, überlies man anderen Gruppierungen das Rampenlicht des Boulevards. Während der Bürgermeister es im TV-Studio von oe24.at suchte, traf sich eine Abordnung der KPÖ im Wiener Prater. Statt auf den Rathausplatz zu ziehen, gingen sie die Prater Hauptallee entlang in die entgegengesetzte Richtung spazieren.
Früher waren mehrere Zehntausend Teilnehmer bei einer 1. Mai-Kundgebung dabei. Am Ende des Tages wurden alle Teilnehmer als Sympathisanten der SPÖ gezählt. Tatsächlich sind immer schon verschiedene Gruppierungen beim Marsch zum Rathaus dabei gewesen wie zum Beispiel mayday.jetzt. Ihr Treffpunkt war heuer wieder beim Praterstern. Organisator Lars hatte 500 Teilnehmer erwartet und zeichnete für jeden Einzelnen ein Kreuz auf den Betonplatz vor Beginn des Umzugstreffens.
Die Anliegen von Lars und Mayday sind vor allem antikapitalistisch. "Die aktuelle Krise verschärft viele kapitalistische Missstände und Widersprüche. Sicherer Wohnraum bleibt ein Privileg. Während Hotels leer stehen, sind Wohnungslose gezwungen, sich zwischen Draußenbleiben oder Infektionsrisiko in vollen Einrichtungen zu entscheiden", lautet ein Statement auf der Homepage. Überraschenderweise ist Lars ein glühender Anhänger von Mundschutzmasken in diesen Zeiten. Er ist überzeugt, dass sie ihm und seiner Familie helfen, nicht zu erkranken und andere zu schützen.
Die Polizei sprach von mehreren hundert Teilnehmern, die Mayday zugeordnet werden, obwohl eine halbe Stunde nach Beginn des Treffens am Praterstern keine 30 Menschen dieser Protestbewegung zugerechnet werden konnten. Es handelte sich hauptsächlich um Journalisten, Polizisten und Praterstern-Stammkundschaft, die sich am Platz einfanden.
Der 1. Mai Aufmarsch wird vielleicht auch deshalb in die Geschichte eingehen, weil transparent wurde, dass der Maiaufmarsch unabhängig von der SPÖ stattfinden kann. Als sich Bundeskanzler Kurz letztes Jahr via Twitter über die Beteiligung von PKK-Sympathisanten am 1. Mai-Demo-Aufmarsch mokierte, hörte man von der SPÖ: Man befinde sich auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit. "Die Maifeierlichkeiten der SPÖ nutzen oft auch andere linke Gruppierungen, um sich zu präsentieren bzw. um Proteste abzuhalten", steht nachzulesen. Damals wie heute wurden alle anderen Gruppierungen, auch die mit kurdischem oder lateinamerikanischem Hintergrund und sonstige Demonstranten, der SPÖ zugeschrieben und dankend angenommen, um sie wenig später zu verleugnen.
Um 13:00 Uhr standen hunderte kurdische Demonstranten vor dem mit Plakatwänden verbarrikadierten Rathausplatz und konnten nicht rein, weil der Platz noch von einigen Jungsozialisten reserviert war. Von den Mayday-Leuten war noch keine Spur zu sehen. Die Polizei sprach von mehreren hundert Teilnehmern. Am Ring staute es sich um 13:00 Uhr, aber es kam zu keiner Eskalation. Warum die Wiener Linien just zu dieser Zeit ihre Bims über den Ring schickten, obwohl längst bekannt war, dass Kundgebungen am Rathausplatz auch ohne SPÖ stattfinden würden, muss vorerst als Frage stehen bleiben.
(key)
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